„Die Spuren der Geschichte sollen sichtbar bleiben“
Audiointerview mit Rita Hoheisel (R. H.), Leiterin der Abteilung Bau- und Kunstpflege, und Jörg Richter (J. R.), Kunsthistoriker
Frau Hoheisel, Herr Richter, wir sprechen heute über Bau- und Kunstwerke in Verantwortung der Klosterkammer Hannover, die Geschichte(n) erzählen. Die Klosterkammer trägt die konservatorische Verantwortung für eine Vielzahl von historischen Bau- und Kunstwerken in Niedersachsen. Können Sie zum Einstieg kurz darlegen, was dieser Bestand alles umfasst?
R. H. Die Abteilung Bau- und Kunstpflege betreut rund 700 denkmalgeschützte Gebäude. Das Herzstück darunter sind die 15 aktiven Klöster und Stifte, bei denen der historische Gebäudebestand von großen Kirchen bis hin zum Kornspeicher reicht. Hinzu kommen 43 Kirchen für beide Konfessionen. Dazu gehören kapitale Bauten wie etwa die Basilika St. Godehard in Hildesheim oder der Dom zu Verden, aber auch kleine Dorfkirchen wie in Binder oder in Sottrum. Weiterhin tragen wir Verantwortung für 18 historische Gutsanlagen, die sogenannten Klostergüter. Häufig gehören zu den Klöstern, Stiften und Gütern noch historische Friedhöfe, Parks und Gärten, die ebenfalls gepflegt werden müssen.
J. R. Viele der Gebäude bergen eine historische Ausstattung, die es auch zu schützen und zu pflegen gilt. Erfasst haben wir im Moment knapp 12.000 Objekte aus der Zeit vom 9. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Es dürften aber noch einige mehr sein. Dieses kulturhistorische Inventar umfasst großformatige Kunstwerke wie Altäre, Kanzeln oder Orgeln, aber auch eher unscheinbare Zeugnisse menschlichen Lebens wie beispielsweise historische Brillen oder Kleidungsstücke. Die Klosterkammer ist mit diesem Bestand für einen beachtlichen Teil des kulturellen Erbes in Niedersachsen verantwortlich.
Inwiefern können diese Gebäude, Kunstwerke und Gegenstände überhaupt etwas erzählen?
J. R. In der Denkmalpflege spricht man vom geschichtlichen Zeugniswert, der Bauten oder anderen Objekten innewohnt. Sie können etwas erzählen von Idealen, Vorstellungen, Lebensweisen, die Menschen einmal gepflegt haben. Unsere gegenwärtige Gesellschaft, in der wir leben, ist von der Fortentwicklung älterer Vorstellungen, also vom Wandel, geprägt. Um dieses Woher zu verstehen, braucht es das Erzählen von Geschichten.
R. H. Wichtig ist, sich klar zu machen, dass der historische Gebäudebestand, mit dem wir zu tun haben, erhalten geblieben ist, weil er nahezu durchgängig in Nutzung war. Die Gebäude, die wir betreuen, sind bis zu 800 Jahre alt. Wenn ein Bau über mehrere Jahrhunderte genutzt wird, gibt es natürlich Veränderungen, weil sich Ansprüche etwa hinsichtlich des Wohnens oder des Gottesdienstes ändern. Nehmen Sie beispielsweise den Westflügel des Stiftes Fischbeck, einen gewaltigen Bau, der um 1310 herum errichtet worden ist. Im Obergeschoss lag der Schlafsaal der Stiftsdamen, dessen Dimension noch immer erlebbar sind. Aber: In eine Hälfte des Saales sind Fachwerkwände eingezogen, die ehemals kleinen Fenster wurden vergrößert und nach Westen hin hat man zwei Fachwerkhäuser angebaut. All dies sind Veränderungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Die Entwicklung vom Schlafsaal hin zu den abgeschlossenen, kleinen, hellen Appartements adliger Stiftsdamen ist hier sichtbar. Das Gebäude erzählt Geschichte. Eine der Anbauten – das Von-der-Kuhla-Haus – haben wir 2022/2023 gemeinsam mit dem Stift und weiteren Fördermittelgebern in Dach und Fach instandgesetzt. 2024 werden wir die Sanierung im Inneren für eine Wohnnutzung vornehmen und, hier ganz klar den Anforderungen der heutigen Zeit geschuldet, energetische Sanierungsmaßnahmen ergreifen.
Bisher ging es um Gebäude, also Immobilien. Wie sieht es mit mobilen Gegenständen aus, beispielsweise Kunstwerken oder Einrichtungsobjekten – erzählen diese auch Geschichte(n)?
J. R. Ja, und zwar in vielfältiger Weise: Da wäre zum Beispiel die berühmte Sitzmadonna des Klosters Wienhausen aus der Zeit um 1300. Sie trägt auf ihrer Brust einen Dekor, der von arabischen Schriftzeichen abgeleitet ist. Vorbild waren Inschriften in Kufi, einem besonderen arabischen Schriftduktus. In Mitteleuropa lernte man dieses Schriftbild durch Goldstoffe mit Inschriften kennen, die aus dem Gebiet des heutigen Iran importiert worden waren. Neben ihrem theologischen Gehalt erzählt die Madonna damit auch von den Verbindungen zwischen Niedersachsen und Persien im Mittelalter.
Welche Verbindungen sind das?
J. R. Das ist ganz spannend. Zwischen dem Reich der Ilchane und Europa gab es intensive Handelsbeziehungen. Luxusartikel gelangten über die Häfen am Schwarzen Meer und am Mittelmeer nach Westen. Genua und Venedig waren dafür Umschlagplätze. Alternativ führten Landwege durch die heutige Ukraine nach Mitteleuropa.
Vorhin haben Sie, Herr Richter, gesagt, dass auch Alltagsgegenstände zum historischen Inventar gehören, für das die KIosterkammer zuständig ist. Können solche Objekte auch etwas „erzählen“?
J. R. Ein schönes Beispiel ist ein Reisekoffer, den wir auf dem Dachboden des Stiftes Bassum gefunden haben. Der Koffer ist beschriftet mit dem Namen der Kapitularin Anneliese von Houwald. Beklebt ist er mit Frachtzetteln der Eisenbahngesellschaft Tanganyika Railways und der Reederei Holland-Afrika-Lijn. Recherchen ergaben, dass ein Zweig der aus der Niederlausitz stammenden Familie von Houwald eine Farm im heutigen Tansania bewirtschaftet hat. Die Region war 1896 vom Deutschen Reich erobert worden und stand ab 1920 unter britischer Verwaltung. Der Koffer erzählt also Kolonialgeschichte, die zugleich ein Teil der Geschichte des heute unabhängigen Staates Tansania ist.
Zu den Stichworten „schützen und nutzen“: Welche praktischen Folgen hat der geschichtliche Zeugniswert für den Umgang mit den Objekten?
R. H. Generell haben wir das Anliegen, dass unsere Gebäude in Nutzung bleiben, damit sie so auch erhalten werden können. Eine zeitgemäße Nutzung würden wir jederzeit ermöglichen wollen. Dabei sind die Ansprüche an die Funktionalität einer Küche, eines Badezimmers oder einer Kirche heute natürlich andere als um 1500 und um 1920. Dem muss man Rechnung tragen, ohne das Gebäude völlig zu überarbeiten. Die Spuren, die etwas von historischen Zuständen berichten können, sollten dabei ablesbar bleiben. Gut gelungen ist das meines Erachtens im Ostflügel des Klosters Marienwerder, den wir zwischen 2014 und 2017 für ein selbstbestimmtes Leben im Alter umgebaut haben. Die historischen Türen und Fenster, die zu den dort ursprünglich im 18. Jahrhundert gebauten Appartements für Stiftsdamen gehörten, wurden bewahrt und aufgearbeitet. Man kann die Idee modularer Wohnräume, wie sie im 18. Jahrhundert realisiert worden ist, weiterhin nachvollziehen. Hinter diesen Türen und Fenstern muss aber keiner auf zeitgemäßen Wohnkomfort verzichten. Oder nehmen Sie den Konventflügel des Klosters Lamspringe, der um 1730/1740 für englische Benediktiner errichtet worden ist. Wir haben dort Räume mit mehr als vier Metern Deckenhöhe für eine Nutzung durch die Gemeindeverwaltung Lamspringe hergerichtet. In den unglaublich großzügigen Fluren, die die Klosterräume erschlossen, wurden Kuben in Leichtbauweise eingestellt. Damit reagieren wir einerseits auf den Bedarf an kleinen Büros, die kostenverträglich beheizbar sind. Gleichzeitig bleibt die große Geste der barocken Klosteranlage erlebbar.
J. R. Eine ganz ähnliche Linie verfolgen wir im Umgang mit dem historischen Inventar. Auch an den Inventarstücken sollen die Spuren ihrer Geschichte ablesbar bleiben. Niemand würde auf die Idee kommen, diese spannenden Frachtetiketten von dem erwähnten Reisekoffer abzulösen. Manchmal muss man ein nicht perfektes, scheinbar unsauberes Erscheinungsbild akzeptieren, weil gerade die Störung etwas erzählt.
Das klingt sehr spannend. Wie halten Sie all die Beobachtungen, die Sie in Ihrem beruflichen Alltag machen, eigentlich fest?
J. R. Schrittweise gehe ich das historische Inventar, für das wir Verantwortung tragen, durch und halte die Angaben dazu in einer Datenbank fest. Diese Inventarrevision ist ein Vorgang, der sich über viele Jahre erstreckt. Zu entscheiden ist: Was hat historischen Zeugniswert? Was wollen wir für künftige Generationen bewahren? Im Zuge der Inventarisierung kommt es zu einem erheblichen Gewinn an Erkenntnissen.
Die Datenbank ist ja erst einmal ein Werkzeug für den internen Gebrauch in der Bau- und Kunstpflege. Tragen Sie die Geschichte(n), die die Bau- und Kunstwerke erzählen, auch in die Öffentlichkeit?
R. H. Ja, selbstverständlich. Die Klosterkammer betreibt zwar kein eigenes Museum und gibt keine eigene Fachzeitschrift heraus. Für die Vermittlungsarbeit nutzen wir andere Formate. So sind wir seit Jahren am Tag der Architektur und am Tag des offenen Denkmals mit unseren Projekten präsent, um über Baufortschritte zu berichten. Bei größeren Projekten veranstalten wir hin und wieder einen Tag der offenen Baustelle. Dann berichten wir vor Ort über historische Funde oder neue Erkenntnisse zu den einzelnen Liegenschaften. Mit Artikeln dürfen wir in der Zeitschrift des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege gastieren, mit dem wir ohnehin eng zusammenarbeiten.
J. R. Unsere historischen Liegenschaften sind ja weit über Niedersachsen verteilt. Da empfiehlt es sich, mit Medien der Vermittlung im kleinen Format zu arbeiten. Im Jahr 2023 haben wir beispielsweise einen Info-Punkt im Klostergut Burgsittensen fertig gestellt, an dem sich Besucherinnen und Besucher über die Geschichte des Geländes orientieren können. Anlassbezogen zeigen wir hin und wieder auch kleine temporäre Ausstellungen. Die dauerhaft eingerichteten Ausstellungsräume in einigen der Klöster und Stifte werden direkt durch die Akteure vor Ort offengehalten. Konventualinnen beziehungsweise Kapitularinnen leisten da gemeinsam mit externen Gästeführerinnen einen wichtigen Beitrag zur Geschichtsvermittlung. Wenn ein Ausstellungsraum neu gestaltet werden soll, beraten wir inhaltlich, gestalterisch und konservatorisch und übernehmen auch die Bauleitung. Zu den letzten solch großer Maßnahmen gehörte die Erneuerung der Ausleuchtung in den Textilmuseen der Klöster Lüne und Wienhausen. Dort werden weltweit einzigartige mittelalterliche Stickereien präsentiert, die vorher noch unter dem Licht von Neonröhren zu sehen gewesen waren. In den Jahren 2022 bis 2023 haben wir die komplette Lichttechnik erneuert und durch LEDs ersetzt, so dass man die Kunstwerke jetzt wesentlich besser und in einer brillanten Ausleuchtung erleben kann.
Die Fragen stellte Dorothee Räber.