„Wir möchten die soziale Teilhabe Wohnungsloser stärken“
Audiobeitrag über das von der Klosterkammer geförderte Projekt „Street Smart“ – soziale Stadtführungen in Hildesheim
Es ist ein kühler und leicht windiger Nachmittag im Oktober 2023. Eine Gruppe von rund zehn Personen nimmt an einer Führung durch die Hildesheimer Innenstadt teil. Sehenswürdigkeiten gibt es hier viele: Kirchbauten, die zum UNESCO-Welterbe zählen, bunte historische Fachwerkhäuser ebenso wie beeindruckende Museen. Doch diese Postkartenidyllen lässt die Gruppe links liegen. Denn bei dieser Stadtführung geht es um Geschichten von Krankheit und Alkoholsucht, von prekären Wohnsituationen und einem Alltag auf der Straße. Es sind Geschichten wie die von Sven, der um ein Haar obdachlos geworden wäre:
„Aufgrund meiner Alkoholsucht war ich auch nicht der netteste Nachbar, ich war oft laut abends, hab laute Musik gehört. Ich ging natürlich den Nachbarn damit auf den Keks. Aufgrund dessen habe ich halt wegen Störung des häuslichen Friedens ne fristlose Kündigung bekommen. Ich hatte zum Glück die Möglichkeit, mir einen Rechtsanwalt zu nehmen, da ich meine Familie noch habe, die noch hinter mir steht. Aufgrund dessen konnte ich das mit juristischen Mitteln noch etwas rauszögern, um mir was Anderes zu suchen.“
Sven hat es geschafft, seine Alkoholsucht zu überwinden. Heute lebt er von Bürgergeld und engagiert sich ehrenamtlich: Er beteiligt sich an der Gestaltung der sozialen Stadtführung „Street Smart“. Diese ist ein Projekt des katholischen Vinzentinerinnen-Ordens Hildesheim. Menschen, die Wohnungslosigkeit und Armut aus eigener Erfahrung kennen, zeigen dabei die Stadt aus ihrer Perspektive. Die Klosterkammer Hannover fördert das Projekt mit 10.000 Euro. Sunita Hasagić, Dezernentin aus der Abteilung Förderungen der Klosterkammer, erklärt, warum:
„…weil wir den sozialen Unsichtbarkeiten von wohnungslosen und bedürftigen Menschen etwas entgegensetzen möchten und dadurch mehr Empathie und Akzeptanz für diese gesellschaftliche Gruppe erreichen möchten.“
Auch die soziale Teilhabe der Betroffenen zu stärken, ist ein wichtiges Ziel. Das geschieht bei den sozialen Stadtführungen ganz unkompliziert. Denn: Sven und auch Udo, der ebenfalls zum Team bei „Street Smart“ gehört, kommen immer wieder ins Gespräch mit den Teilnehmenden und beantworten offen deren Fragen. Udo erzählt, dass Konflikte mit Nachbarn dazu geführt haben, dass seine Wohnsituation unsicher ist:
„Wenn sich die Nachbarn, zwei oder drei, zusammentun, brauchen die sich nur an den Vermieter oder die Verwaltung wenden und dann muss der reagieren, weil ihm drei Mieten wichtiger sind als meine eigene … dann isses das gewesen. Ich hab bis heute nix Neues. Und ich suche aktiv. Man kann immer mehr tun als man wirklich tut, aber man hat ja auch noch andere Dinge zu tun und es gibt auf‘m Wohnungsmarkt nichts.“
Die prekäre Wohnlage führte bei dem gelernten Bautischler zu psychischen Problemen und, in Kombination mit einer Arthrose, zu Berufsunfähigkeit.
Leiter des Projekts „Street Smart“ ist der Sozialarbeiter Claude Englebrecht. Angestellt ist er bei der Vinzenzpforte, der sozialen Begegnungsstätte der Vinzentinerinnen. Dort sind auch Sven und Udo oft zu Gast und bekommen ein günstiges Mittagessen. Zusammen mit den beiden bildet Englebrecht ein festes, eingespieltes Team für die Führungen:
„Und dann nehme ich hier meine zwei Mit-Stadtführer mit. Die Gäste der Vinzenzpforte erklären dann der Gruppe die Stadtführung. Ich mache das immer mit den gleichen Beiden, wir haben halt monatelang Geschichten gesammelt, Texte gelesen, diese Route abgeklärt…“
Die sozialen Stadtführungen starten am Ottoplatz in der Hildesheimer Nordstadt, nahe des Hauptbahnhofs. Die Teilnehmenden an diesem Herbsttag sind Mitglieder der örtlichen Evangelisch-freikirchlichen Gemeinde. An der ersten Station weist Claude Englebrecht auf die städtische Notschlafstelle hin, die in einfacher Ausführung alles Notwendige bietet. Aber: Nicht jede wohnungslose Person wolle in dieser Einrichtung übernachten. Manche könnten sich nicht gut an feste Regeln halten, außerdem komme es dort bei Menschen mit Suchterkrankungen häufig zu Aggressionen. Weiter geht es in eine Parkanlage, die manche zum Übernachten einer Notunterkunft vorziehen. Die Gruppe der Kirchengemeinde erfährt, dass es in Hildesheim rund 500 Wohnungslose gibt. Und fast alle von ihnen treibt eine drängende Frage um: Wo gehe ich zur Toilette? Das schildert Udo kurz darauf am Hauptbahnhof:
„Meistens ist es das Problem, mit diesen Menschen, dass die einfach nicht diese Sauberkeitsansprüche haben wie Ottonormalerverbraucher*innen. Rechts neben uns ist das Interhotel [Intercityhotel], ganz neu gebaut, die haben sich drei Monate lang bemüht, auch für die Öffentlichkeit Toiletten zur Verfügung zu stellen, die dann dementsprechend aussahen. Inklusive Vandalismus. Und deswegen haben die das einfach wieder kurzerhand eingestellt. Ansonsten bleiben nur die geheimen Ecken, wo man sich unbeobachtet fühlt. Da achtet dann der Sicherheitsdienst oder die Bundespolizei drauf, dass das nicht verrichtet werden kann.“
In der ganzen Hildesheimer Innenstadt gibt es keine funktionierende öffentliche Toilettenanlage, nicht gegen Bezahlung, auch nicht im Bahnhofsgebäude selbst. So bleiben Wohnungslosen tatsächlich nur der öffentliche Raum oder vielleicht noch wohlwollende Cafébetreiber – denn jedes Mal ein Getränk zu kaufen, ist einfach zu teuer. Es ist deutlich zu merken: Die Teilnehmenden der Führung macht dieses Problem betroffen.
In einer unscheinbaren Seitenstraße zeigt Claude Englebrecht der Gruppe dann, dass sich hier gleich drei Anlaufstellen für Wohnungslose befinden: Ein Tagestreff, die Büros städtischer Streetworker und die Ambulante Wohnungslosenhilfe. Diese bietet neben Beratungen auch folgende Möglichkeit:
„Da gibt es zum Beispiel 300 Menschen, die dort ihre Postadresse haben. Die lassen sich alle ihre Post dort hinschicken. Dort ist keine Meldeadresse. Das ist nur, damit zum Beispiel vom Bürgergeld der Bescheid, vom Jobcenter, dann dahin geschickt wird. Und dann kann man wenigstens per Post was empfangen.“
Immer wieder machen Udo und Sven die Teilnehmenden beim Rundgang durch Hildesheim auf Details aufmerksam, die für Menschen in schwierigen sozialen Lagen wichtig sind: Zum Beispiel ein Kühlschrank im Eingangsbereich einer Kirche, in dem man vor dem Wegwerfen gerettete Lebensmittel kostenlos mitnehmen kann. Oder Udo zeigt auf Ringe an Mülleimern, in dem Pfandflaschen zum Sammeln abgestellt werden können.
„,Pfand gehört daneben.‘ Um zum Bürgergeld was dazu zu verdienen, ist die schnellste einfache Möglichkeit, das Weggeworfene der Bevölkerung aufzusammeln, in Form von Pfandflaschen, Glas, Plastik. Und nachmittags, wenn ich meinen eigenen Kram erledigt habe, gehe ich drei Stunden spazieren, durch die Parks, wenn Veranstaltungen sind, gucke ich mal vorbei in die Mülltonnen oder an diese Pfandringe.“
Immer wieder entwickeln sich zwischen Teilnehmenden und Stadtführern Gespräche. Warum etwa manche Menschen in Notlagen Hilfsangebote nicht annehmen, erläutert Claude Englebrecht:
„Vielleicht hat jemand ganz andere Sorgen und hat ein Projektdenken nur bis heute Abend und will nur genug Geld erschnorren, um seinen Alkohol für heute zu schaffen. Man guckt einfach nur, dass man den Tag schafft. Das ist ein Denken, wo viele reingeraten und das gibt so’n Teufelskreis dann.“
Eine Teilnehmerin ist pensionierte Lehrerin. Sie erzählt, ihre Schülerinnen und Schüler hätten sie früher oft gefragt, wem auf der Straße sie Geld geben sollten und wem eher nicht. Darüber macht sich auch Sven Gedanken:
„Also, ich sag mal, ich geb‘ lieber einem Straßenmusikanten was, als jemand vielleicht noch in der Sucht zu unterstützen. Was aber jetzt auch nicht heißen soll, dass jeder, der da bettelt, irgendwie süchtig ist oder so. Ich find‘s auch grenzwertig, denn was soll derjenige machen, der jetzt seine Droge braucht? Da ist es eigentlich besser, dem 50 Cent oder einen Euro zu geben, als wenn der irgendwas Anderes macht, was für die Mitmenschen vielleicht nicht so gut wäre oder sich selbst schaden muss, durch Prostitution, Diebstahl. Ist schwer zu entscheiden, möchte ich lieber auch keine Empfehlung abgeben. Das sollte jeder nach seinem eigenen Herzen entscheiden.“
Manche Fragen lassen sich unterwegs klären und manch eine Diskussion setzt sich nach dem Ende der Führung noch fort. Denn diese endet bei Kaffee und Keksen in der sozialen Begegnungsstätte Vinzenzpforte. Spätestens dort wird deutlich, dass „Street Smart“ tatsächlich Menschen verschiedener sozialer Schichten zusammenbringt. Und das Projekt öffnet den Teilnehmenden die Augen für Probleme, die in ihrem Alltag kaum eine Rolle spielen. Das bestätigt die Klosterkammer-Dezernentin Sunita Hasagić, die bei der Führung mitgelaufen ist:
„Besonders bewegt haben mich die persönlichen Erzählungen von Sven und Udo, den beiden Stadtführern, und dabei wurde mir bewusst, wie kompliziert das Leben auf der Straße sein kann. So ein Leben in prekären Lebensverhältnissen fordert von Menschen einiges an sozialen Kompetenzen und Improvisationstalent.“
Auch Joscha van Breen, der soziale Arbeit studiert und darum an der Stadtführung teilgenommen hat, ist beeindruckt:
„Das wirkt sehr professionell, sehr durchdacht, sehr vielschichtig, und halt einfach der große Mehrwert, dass das wirklich Menschen erzählen, die auch selbst betroffen sind oder waren.“